Waldemar Kamer
Gisela Berlt
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Eine Familienchronik / Erläuterung

Chronique familiale

In einem Artikel erläutert W.K. die Entstehungsgeschichte dieser Chronik:

EINE FAMILIEN-CHRONIK SCHREIBEN
Für meine Freunde, die mich seit Jahren fragen, was ich denn da eigentlich treibe

Ich glaube, dass ich auf die Welt kam, um diese Geschichte zu schreiben. Als Kind war ich fasziniert von den Büchern, die Jahrhunderte überleben, von den Mönchen, die in ihren Klöstern für die kommenden Generationen schrieben, dass die Pest die Städte verwüstet hat.  Mit demselben Wunsch, der Nachwelt eine unauslöschliche Spur zu hinterlassen von einer Missetat, deren Zeuge ich gewesen war, nahm ich meinen schwarzen Filzstift in die Hand und schrieb in ein Schulheft: “Tante Riet hat mir einen Zahn ausgerissen, Waldemar, 1972“. Das sind also die Anfänge meiner Karriere als Chronist. Mit sechs Jahren habe ich meine Tante bis in alle Ewigkeit verdammt! Mit 39 Jahren würde ich aber doch gern hinzufügen, dass es sich bei dieser “Missetat“ vermutlich um einen Milchzahn gehandelt hat, der schon locker war und sicherlich nicht um das grundsätzliche Vergnügen, anderen Menschen Zähne auszureissen. Doch das Schulheft ist verschollen...

Wir hatten einen echten Chronisten in unserer Familie: meine Grossmutter mütterlicherseits, Gisela K., geborene Tiedke (so stellte sie sich vor). Sie war eine anachronistische Figur, deren Existenz schon vor langer Zeit aufgehört hatte. So schien es wenigstens: sie hatte im Zweiten Weltkrieg alles verloren und sich davon nie wieder erholt. Sie lebte mit zwei Klavieren, auf denen sie Unterrichtsstunden gab. Von montags bis freitags, alle Wochen ihres Lebens (ausser in den Schulferien), bis zu ihrem 80. Geburtstag. Von den Wänden blickten Vorfahren aus fernen Zeiten auf uns herab und in den Regalen standen unzählige Schwarz-Weiss-Photos. Alle Portraitierten waren tot und im Haus herrschte Schweigen wie in einem Mausoleum. Auf den Bildern sah man ihren Ehemann Vollrat und seine beiden Brüder: Ernst, ein schöner Mann, trotz der langen “Schmisse“, die seine Wangen durchzogen (Erinnerungen an seine Burschenschaft, die “Vandalen“) und der jüngere, “Krischan“ (Karl-Christian), sympathisch und immer lächelnd. Alle mochten ihn; jeder erzählte von seinen Jungenstreichen und viele sagten mir, ich ähnele ihm. Ausserdem gab es den Vater von Gisela, Johannes Tiedke, ein Mann, der Respekt einflösste: als Sohn eines armen Berliner Pastors finanzierte er sein Jurastudium in Berlin und Paris mit Nachhilfestunden. Er stieg zum Direktor einer grossen deutschen Versicherungsanstalt auf. Er war kultiviert, reich und grosszügig. Gisela war sein ganzer Stolz und ihre “grosse Hochzeit“ vermutlich die Erfüllung seines sozialen Aufstiegs. Neben diesen zwei Männern ihres Lebens gab es noch einen dritten, vielleicht der Schönste von allen (blond und blauäugig), ihr ältester Sohn: Berlt genannt wie so viele Erstgeborene der Familie, seit sich ein gewisser Berlt K. vor 750 Jahren in der Nähe von Greven, einem Rittergut in Mecklenburg, niedergelassen hatte.

Greven befand sich inzwischen in der DDR, wohin meine Grossmutter seit ihrer dramatischen Flucht vor den sowjetischen Truppen 1945 keinen Fuss mehr gesetzt hatte. Es war ihr unter Androhung von Gefängnisstrafe verboten worden, sich näher als 50 Kilometer ihrem ehemaligen Gut zu nähern. Die Photos, die Ahnenbilder, das Gemälde von Greven im Esszimmer, alles kündete von einer Welt, die nicht mehr war. Die Gegenwart hatte kaum einen Platz in diesem Haus und ich kann mir vorstellen, dass meine Mutter und ihre beiden Brüder sich dort in den 50er Jahren nicht besonders wohl gefühlt haben. (...)

Aber ich bewunderte meine Grossmutter. Ich wagte zwar nicht ihr zu sagen, dass ich sie liebte - das wäre nicht ihr Stil gewesen – aber ich bewunderte sie. Ich habe es in einem Schulaufsatz geschrieben. Wir sollten in 45 Minuten “ein Porträt von jemandem zeichnen, den wir bewundern“. Unter vielen Aufsätzen über Gandhi und den Beatles befand sich ein sehr persönlicher: “Meine Grossmutter“.

Ich schrieb ungefähr Folgendes: (...)

Ich war 13 Jahre alt, als ich diesen Aufsatz in der Schule schrieb. Im selben Jahr beschloss ich, eine kleine Biographie meiner Grossmutter zu schreiben, um sie ihr zum 70. Geburtstag zu schenken. Ich wollte nur über sie schreiben. Denn sie selbst sprach niemals über sich, sondern schwärmte dauernd von Vollrat, Greven und den K., und manchmal auch von ihrem Vater und ihrem Sohn. Es ging immer um diese drei Männer und deren Andenken, es ging nie um sie selbst, weder um ihre Kindheit, noch um ihr Leben als Pianistin vor der Hochzeit. Sie hat mein Interview zwar akzeptiert, aber sehr lange ist meine Biographie nicht geworden. In ihren Augen war ich nur ein Kind, und sie beschränkte ihre Erinnerungen daher auf ihre eigene Kindheit. Das ging gegen meinen Ehrgeiz und meine Entschlossenheit (die damals, mit 14 Jahren, vielleicht ausgeprägter waren als heute). Als “richtiger Journalist“ wollte ich nun herausfinden, was man mir nicht erzählen wollte. Und so begann das Schreiben dieser Chronik, die ich nach 25 Jahren immer noch nicht beendet habe…

Auf Bitte der Familie von W.K. ist dieser Artikel für die Zeitschrift Mudai nicht frei auf dem Internet zugänglich, da er viele persönliche Details enthält über Personen die in dramatischen Umständen gestorben sind. Aber wenn er Sie interessiert, brauchen Sie nur an Waldemar Kamer zu schreiben: „ich würde gerne Ihren Artikel lesen“,  und es wird ihm eine Freude sein, ihn Ihnen zu schicken.

An W.K. schreiben

[Mudai – „ohne Titel“ auf Japanisch – ist eine französische Zeitschrift, von Freunden herausgegeben, für Freunde geschrieben und die nur an Freunde verkauft werden darf. Aber man kann sie in der Bibliothèque Nationale in Paris einsehen.]